Der Meister und sein Schatten. Von Tycho Brahe zum organischen Denken des Sonnensystems

Tycho Brahes Observatorium Wikipedia
Tycho Brahe ist eine der historischen Persönlichkeiten, die außerordentliche Gunst in der Bewertung Rudolf Steiners erhielten; als Astronom und Astrologe am Hofe Rudolf II in Prag, in einer ungewöhnlich unruhigen Zeit, zwischen Gegenreformation und aufrührerischen protestantischen und nationalistischen Bewegungen, genoß Brahe auch großes Wohlwollen des Habsburger Nonkonformisten Rudolf II. Letzterer war geprägt durch eine Kindheit an einem spanischen Königshof, der in Bigotterie, Gegenreformation und öffentlichen Hinrichtungen im Nachklang an die Zerschlagung der maurischen Kultur erstickte: „The period in which Rudolf grew up in Spain was, therefore, one of neoscholasticism and mysticism, of persecuted illuminists and burnt heretics, of extreme religious bigotry and political absolutism.“ (1) Rudolfs Reaktion darauf war eine Mischung zwischen eigenem Absolutismus und der Gewährung liberaler Freiräume, zwischen politischer Lähmung und einer aktiven Verteidigung der Künste, des Okkultismus und der Wissenschaften. Tycho Brahe sollte zu einem von Rudolfs wichtigsten Ratgebern werden- als Astronom, aber auch, vor allem, als Hofastrologe, der Rudolf eigene Entscheidungen abnehmen sollte. Damit gesellte sich Brahe in eine Lage, die ihm durchaus nicht nur angenehm, aber typisch war für den „magischen Kreis“ an diesem Hof: „During Rudolf’s reign, Prague not only attracted some of the greatest minds of the day in art and science, but also hordes of alchemists, astrologers and magicians on the make as well as soothsayers, fortune-tellers, charlatans, mountebanks and puffers who delighted in telling a tall yarn and fleecing the gullible.“ (1)

Es erscheint doch erst einmal erstaunlich, dass Rudolf Steiner eine derart schillernde Persönlichkeit wie Tycho Brahe zu den geistigen Paten seiner anthroposophischen Bewegung zählte, ja sogar zu den michaelischen Vorbereitern jeglicher Esoterik des 20. Jahrhunderts: „Und sehen Sie, will man nun für das, was man erforschen soll für die Zukunft des zwanzigsten Jahrhunderts, einen bedeutsamen Helfer haben, sozusagen jemanden, der einem raten kann in Bezug auf die übersinnliche Welt, wenn man Impulse braucht, die da drinnen sind, dann ist es die Individualität des Julianus – Tycho.“ (2) Steiner hat den karmischen Werdegang Tycho Brahes so geschildert, so verbunden mit Grals- Zusammenhängen und antiken Mysterien, dass diese Individualität über Zeiten und Kulturen hinweg eine esoterische Kontinuität darstellt: „Überall spielt da die Individualität, die zuletzt als Tycho Brahe inkarniert war, eine außerordentlich große Rolle. Er war überall bestrebt, die großen, dauernden Impulse dessen, was man Heidentum, was man altes Mysterienwesen nennt, eben auch zum besseren Verständnis des Christentumes zu erhalten. In das Christentum war sie eingezogen, während sie als Seele der Herzeloyde (3) lebte. Jetzt war er bestrebt, alles dasjenige, was er durch seine Initiation als Julianus Apostata (4) hatte, einzuführen in die Vorstellungen des Christentums. Und Tycho Brahe hatte bedeutenden Einfluß darauf, daß diese Seelen (der Michael-Strömung) nun am Ende des 19. Jahrhunderts vorbereitet auf die Erde herunterkamen, um den Christus nicht nur so zu schauen oder zu fühlen, wie ihn die verschiedenen Bekenntnisse fühlen, sondern wiederum in seiner grandiosen Weltherrlichkeit als den kosmischen Christus.“ (5) Tycho Brahe wirkte in Steiners Darstellung „fortwährend“ in dem, was seiner Vorstellung der michaelisch- esoterischen Impulse entspricht: „In den Strömungen, die ich als die Michael-Strömungen geschildert habe, findet sich eigentlich diese Individualität – Tycho Brahe – Herzeloyde – Julianus Apostata fortwährend; in irgendeiner der übersinnlichen Funktionen ist sie im Grunde genommen immer da.“ (6)

Es ist aus Steiners Disposition naheliegend, dass er den abtrünnigen römischen Kaiser Flavius Claudius Iulinanus (7) faszinierend fand- hatte dieser doch im 4. Jahrhundert den letzten Versuch gemacht, das Christentum als alles durchdringende römische Staatsreligion zu verhindern und stattdessen eine Neuauflage der eleusischen Mysterien zu fördern. Ein okkulter Nostalgiker also, ein Verehrer des praktizierten Klassizismus. Das, um dies schon anzufügen, hatte er mit Tycho Brahe gemein, der trotz hervorragender optischer Geräte und mathematischer Genies wie Kepler an seiner Seite an seiner - modifiziert ptolemäischen- Auffassung des Sonnensystems festhielt: „Moreover it was assumed that the Earth was at the centre of the universe and everything revolved around it. This view had prevailed since Aristotle had first insisted on the immutability of the spheres in the fourth century BC in Athens and it had been taken up by the great astronomer Ptolemy in Alexandria in the second century AD. By helping to destroy this carefully wrought world view Brahe and Kepler revolutionised astronomy.“ (1) Tycho Brahe kämpfte - mit dem und gegen den jungen Kepler- um sein Weltbild, aber er verlor natürlich.

Was für eine Person war Tycho Brahe tatsächlich- vor dem Hintergrund der nach Rudolf Steiner betonten, über viele Inkarnationen verlaufenden initiatorischen Genialität? (8) „Brahe was born on 14 December 1546 into the aristocratic family of Otto Brache and Beate Bille in Knutstorp (Knudstrup) near Helsingborg, now in south-west Sweden, then part of Denmark.“ (1) Mit zwei Jahren wurde Brahe seinen Eltern für eine fürstlich- lutherische Erziehung im Schloß von Tostrup entzogen. Mit 12 Jahren begann er sein Studium an der Universität von Kopenhagen. Er wechselte ein Jahr später an dieser hoch angesehenen Universität zu den Fakultäten Astronomie und Astrologie. Brahe arbeitete sich intensiv in die Mathematik ein und verbrachte seine Nächte mit der Beobachtung der Himmelskörper. Die Ordnung in der Bewegung des Kosmos war - mathematisch berechnend und beobachtend- seine Profession. Durch die Erdbewegung erzeugte Schleifen, Retrogressionen der Planeten sowie Kometen stellten zu dieser Zeit aus der Sicht des ptolemäischen Weltbildes noch unlösbare Rätsel dar. Mit 15 wechselte Brahe nach Wittenberg, um Recht und Medizin zu studieren, aber auch um aktuelle astronomische Bücher sowie systematische Tabellen der Sternbewegungen und Himmels- Zeichnungen von Albrecht Dürer einsehen zu können. Es wurde Brahe zwar klar, dass etwas an den vorliegenden Berechnungen nicht stimmen konnte: Die Erde konnte im Sonnensystem nicht absolut zentrales Element sein, aber Brahe war nicht willens, die Widersprüche in ein neues Weltbild über zu führen.

Nach einem Duell schwer verletzt, das er wenigstens in den Umrissen vorher astrologisch hatte datieren können, vertiefte sich sein okkultes Interesse auch in Richtung Alchemie. Zudem war er, durch das Duell im Gesicht entstellt, auf eine Prothese der Nase angewiesen: Man nannte ihn den „Mann mit der Silbernase“. Ab 1569 wirkte er in Augsburg- bekannt durch den Bau gewaltiger Apparate zur Observierung des Himmels, aber auch wegen seiner astrologischen Voraussagen ein Star unter der Prominenz. Nach dem Tod seines Vaters 1571 ging er, wohlhabend und in einer unverheirateten Beziehung, der acht Kinder entsprangen, zurück nach Dänemark, um an dem Zusammenhang zwischen astronomischen und meteorologischen Phänomenen zu forschen und, ohne finanzielle Ansprüche und Nöte, Bücher zu schreiben. Wiederum wurde sein Weltbild - nach dem der Kosmos unveränderlich und geordnet sei- 1573 durch die heftige Explosion einer Super- Nova erschüttert: „In the previous year, at the age of twenty-five, he had seen on 11 November from his observatory an exploding star to the north-west of the constellation of Cassiopeia which shone brighter than Venus for more than a year. It was what is today known as a supernova, resulting from the explosion of a ‘white dwarf’ star. This anomaly was yet another blow to the medieval world view of the Aristotelians who believed that the heavens beyond the Moon were fixed.“ (1) Trotz allem blieb Tycho Brahe bei der Ansicht, die Erde bewege sich selbst nicht, und der Mensch sei astrologisch zwar determiniert, aber auch fähig zur Überwindung seiner Anlagen. Außerdem war er im höchsten Maß abergläubisch. Schlechte Omen, üble Tage (davon gab es eine Menge) und ein Talisman bestimmten seine Entscheidungen. 1575 lernte er Rudolf II im Rahmen von dessen Krönungsfeierlichkeiten in Regensburg kennen und berechnete dessen Horoskop.

Zunächst aber wurde er vom dänisch- schwedischen König zurück berufen und erhielt lebenslängliches Anrecht auf die Insel Ven. Dort baute er eigenes Observatorium in einem Palast namens Uraniburg, errichtet nach den Prinzipien musikalischer Harmonie und geometrischer Symmetrie. Doch die Ordnung wurde von außen und innen gestört. 1577 entdeckte Brahe einen sehr irritierenden Kometen im neuen Observatorium, dessen Bahn, die er berechnete, sich außerhalb jeder Ordnung befand. Tycho Brahe schrieb alarmierte astrologische Briefe an den dänischen König und prophezeite schwerste Unruhen unter den Potentaten, ja sogar ein katastrophales Massensterben- die Pestwellen zogen sich bald auch über Europa. Er konzipierte und publizierte ein neues Konzept des Sonnensystems, in dem das Dogma der zentral unbewegten Erde allerdings immer noch intakt war. Diese Restbestände der katholischen Dogmen würden später die Grundlage des Prozesses gegen Galileo darstellen.

Brahe genoss die Aufmerksamkeit der Mächtigen und baute weiter Observatorien aus, jedoch ohne je auf ein Teleskop zurück zu greifen. Brahe unterrichtete Assistenten und Schüler, sagte aber auch astrologisch die Zukunft voraus. Dabei pflegte er seine falschen Prophezeiungen später zu unterschlagen oder zu beschönigen. Seine abenteuerlichen medizinisch- alchemistischen Mixturen gegen die Pest waren in jeder Apotheke zu haben, aber wirkungslos. Sein Verhalten gegenüber der Bevölkerung der Insel, die ihn zu versorgen hatte, war von Geiz, Brutalität und Willkür geprägt- er zahlte den Untergebenen niemals etwas. Brahe verlor die Unterstützung des sehr jungen neuen dänischen Königs und sah, angesichts seines autokratischen und herrischen Auftretens, allmählich dem finanziellen Ruin entgegen. 1596 packte Tycho Brahe seinen gesamten Besitz zusammen und machte sich mit Kind und Kegel auf den Weg nach Prag, an den Hof Rudolf II. Noch vor der Ankunft musste er eine Kopie eines Briefes des jungen Kepler lesen, der Brahe darin der kindlichen Schmeichelei gegenüber Mächtigen beschuldigte, und Brahe ein Verhalten wie das eines Hofhundes unterstellte (9)- nicht ohne Grund.

Kepler hielt Tycho Brahes System für ein Kartenhaus, war aber interessiert an dessen Beobachtungen und seinen Instrumenten. Aber zunächst - 1600- wurde Brahe nahe Prag mit einer fürstlichen Apanage und einem eigenen Schloss inklusive Observatorium nahe des Hofes Rudolfs platziert. Ganze Teams übernahmen ständige nächtliche Observationen der bekannten Planeten. Allerdings hatte Brahe auch dafür zu sorgen, den chronisch entscheidungsschwachen Kaiser astrologisch zu beraten, was ihm gewaltigen Einfluss einbrachte, aber auch - als persönlicher Berater- die eigene wissenschaftliche Arbeit unmöglich machte. Brahe erhielt den Ruf des „bösen Geists“ des Kaisers: „Typical of their time, both men shared an interest in the miraculous and in the rational; in astrology and astronomy; in religion and mathematics. Furthermore, Rudolf valued Brahe’s counsel because he was not attached to any clique or faction in his entourage. As part of his position as court astrologer, Brahe had to advise him not only on appointments but on the continuing campaign against the Turks. He told him that there were good and bad days for certain actions and decisions. As a result, Brahe came to be known at court as „the evil spirit of the Emperor“.“ (1)

Wenige Monate später stiess der vom sammelwütigen Rudolf (er sammelte Kunst, wundertätige okkulte Artefakte und Wissenschaftler, Esoteriker, Visionäre und Scharlatane seiner Zeit) ebenfalls eingeladene, 28jährige Johannes Kepler hinzu an den Hof- eine denkbar schwierige Konstellation, vor allem für den arrivierten 45jährigen Egomanen Brahe. Aus historischer Sicht kann man sicherlich konstatieren: „Brahe was probably the best observational astronomer of all time, whereas Kepler, with poor eyesight, had mathematical abilities second to none. Brahe was able to measure the movements of the planets while Kepler was able to formulate their laws. By bringing the two men together, Rudolf inadvertently made a huge contribution to astronomy in particular and to science in general.“ (1) Brahe repräsentierte die Weisheit der vergangenen Mysterien, determiniert vom Dogma der zentralen Position der Erde und dem im fixierten Sternenhimmel repräsentierten Logos, ein Astrologe an den Schaltstellen der Macht der Habsburger. Johannes Kepler war ein moderner Mathematiker und Entdecker, der die physikalischen Gründen für die Planetenbewegungen, aber zugleich auch musikalisch- göttliche Harmonien im kosmischen Bewegungsfeld zu entdecken suchte: „At the same time, he remained convinced, like the Pythagoreans and the Neoplatonists, that there is an underlying harmony and order in the universe. In his view, geometry, music, medicine and astronomy are all related at a fundamental level.“ (1)

Wie nicht anders vom autokratischen Meister Tycho Brahe zu erwarten, war der Beginn der Zusammenarbeit für Kepler außerordentlich schwierig. Rudolf gewährte ihm zunächst keinerlei Unterstützung, und Brahe behandelte ihn wie einen unbezahlten Dienstboten oder Assistenten. Kepler hatte kein Geld, arbeitete in einer Umgebung, die das ihm fremde Dänisch sprach und hasste das laute Treiben mit geräuschvollem gemeinsamem Essen. Brahe versagte Kepler die Benutzung seiner Instrumente, stritt sich heftig mit ihm, besorgte nach und nach aber ein wenig Geld und persönliche Audienzen bei Rudolf. Brahe war dabei durchaus eigennützig, denn er nutzte Keplers Fähigkeiten, um die exakte Mars- Bahn zu berechnen. Selbst als der alte Meister wenige Monate später überraschend erkrankte und im Sterben lag, erlaubte er Kepler zwar, künftig seine Beobachtungen und Geräte zu benutzen- aber mit der Auflage, damit seine, Brahes, Hypothesen zu bestätigen und nichts sonst. Tycho Brahe letzten, mehrfach wiederholten Worte waren „Lass mich nicht umsonst gelebt haben.“

Rudolf II soll nach Brahes Tod zunächst eine magische Séance durchgeführt haben, um dessen Geist zu beschwören und zu halten. Danach fing er sich, wandte sich Johannes Kepler zu und unterstützte dessen Arbeit bis zu seinem Tod - über ein Jahrzehnt lang. Seine Arbeit sollte, parallel zu Galileo, das Weltbild grundsätzlich verändern. Als hochbezahlter Hofastronom hatte Kepler aber auch die undankbare Position Brahes als persönlicher Astrologe des bipolaren Rudolf zu übernehmen. Kepler war also gezwungen, faktisch und praktisch die Rolle Brahes auszufüllen. Er hing aber nicht dessen antiken Dogmen an, sondern legte die Grundlagen für die moderne Wissenschaft.

Rudolf Steiners Charakterisierung sowohl Julianus Apostatas wie Tycho Brahes als Mittler zwischen Strömungen wird, je weiter man sich einliest, immer rätselhafter. Es gibt Gemeinsamkeiten: Julianus versuchte das römische Staats- Christentum Konstantinscher Prägung zugunsten einer ziemlich unzeitgemäßen Renaissance der klassischen Mysterien zurück zu drehen - Brahe versuchte das klassische Weltbild des Kosmos trotz widersprüchlicher Beobachtungen und Berechnungen um jeden Preis zu erhalten. Er spielte damit den Jesuiten und Inquisitoren des Vatikans in die Hände, indem er ihnen der Dogmatik folgende Belege lieferte. Tycho war ein stämmiger Aristokrat mit sehr gering ausgeprägten sozialen Fähigkeiten und wehenden roten Haaren, beherrscht von Rechthaberei und einem unstillbaren Machtdrang- der kaiserliche Hofhund mit Silbernase. Integrität sieht anders aus. Selbst auf seinem Totenbett versuchte er seinen Nachfolger Johannes Kepler dazu zu zwingen, seine zukünftigen Arbeiten dem antiken Weltbild Brahes unterzuordnen.

Da muss es zunächst merkwürdig erscheinen, dass Rudolf Steiner Keplers modernes Weltbild selbst im Sinne von Brahe negativ bewertet: „Die ältere Astronomie, die hat in den komplizierten Linien, durch welche sie das Sonnensystem zum Beispiel hat begreifen wollen, nicht nur die aufeinanderfolgenden, sagen wir, optischen Orte der Planeten zusammen gefaßt, sondern diese ältere Astronomie, die hat auch eine Empfindung gehabt von dem, was erlebt werden würde, wenn der Mensch drinnen stecken würde in diesen Bewegungen des Planetensystems. Man möchte sagen: In älteren Zeiten hatten die Leute eine sehr deutliche Vorstellung von den Epizyklen und so weiter, von denen man sich dachte, daß gewisse Sterne sie beschreiben. Da war überall noch wenigstens ein Schatten von menschlichem Empfinden darinnen. Ja selbst bei Kepler ist noch etwas durchaus Menschliches in den Berechnungen der Planetenbahnen.“ (10)

Aber nur etwas. Rudolf Steiner war nicht ohne Grund Anhänger Tycho Brahes. Für ihn hatte mit Kepler (und Kopernikus) die technologische Weltsicht begonnen, die er als Verarmung und als Reduktionismus auffasst: „Erst das Hereinbrechen des Kopernikanismus, erst die Vorstellung, daß die ganze Welt, die im Raume aus- gebreitet ist, auch nur von Raumesgesetzen beherrscht ist, die Vorstellung erst dieser Kopernikanischen Art, die Erde um die Sonne kreisen zu lassen, die fesselt den Menschen an das physisch-sinnliche Dasein und verhindert ihn nach dem Tode, in die geistige Welt entsprechend aufzusteigen. Man muß heute auch diese Kehrseite der Kopernikanischen Weltanschauung kennenlernen.“ (11) „Die kopernikanisch- keplersche Weltanschauung ist eine sehr bequeme Weltanschauung. Um aber dasjenige zu erklären, was der Makrokosmos ist, ist sie nicht die Wahrheit.“ (12)

Was Steiner damit tatsächlich meint, führt er bis ins Detail in seinem Astronomie- Kurs (13) aus. Er kehrt keinesfalls zurück zu Modellen eines Tycho Brahe, sondern zeigt die messbaren Ungenauigkeiten der mathematischen Berechnungen Keplers in Bezug auf die Planetenbahnen auf- es handelt sich nicht um ein starres System, sondern um einen Organismus, der noch anderen Kräften als denen der Gravitation ausgesetzt ist. Was Steiner „Saugkraft“ (13) des Äthers nennt, würde man wohl heute als Einflüsse der dunklen Materie bezeichnen. Die erheblichen graduellen Schwankungen in den berechenbaren Bahnen aller Gestirne sind heute in der gesamten Astronomie zum bedeutenden Thema und Forschungsgegenstand geworden: „Es muß im Planetensystem etwas sein, was etwas anderes ist als die Gravitationskraft und was gerade der Inkommensurabilität zugrunde liegt. (14)

Für Steiner war Keplers mathematische Erfassung der planetarischen Bewegungen die abstrakte Reduktion eines äußerst beweglichen und komplexen Bewegungsmusters, das einen bedeutsamen und signifikanten Charakter hat und eine spezifische Struktur aufweist. Für Kepler und die auf ihm fussende Astronomie waren die systematischen Abweichungen von der starren mathematischen Form lediglich Varianten gewesen, die eine ständige, fortlaufende Korrektur in den Berechnungen erforderten. Für Steiner führen die Abweichungen in ihrer Folge gerade zu einem „perspektivischen Gebilde“ (15), das Rückschlüsse auf die Charakteristika der kosmischen Körper zulässt. Die Verfolgung der gesamten Bewegungsstruktur aller planetarischen Körper zueinander führt zu einem organischen Ganzen: „Es ist notwendig wiederum abzukommen, so unangenehm das auch manchem klingen mag, von einem gewissen Prinzip, das im Beginn der neueren Zeit in unsere Naturerklärungen eingezogen ist. Es ist das Prinzip, alles nach der Einfachheit zu erklären. Ja, man möchte sogar sagen, die Natur, die Wirklichkeit ist dasjenige, was einfach ausschaut, was aber, wenn man es wirklich untersucht, kompliziert ist, so daß man in der Regel in demjenigen, was sich als einfach darbietet, ein Scheingebilde hat.“ (16)

Das Problem, das Rudolf Steiner mit dem System Keplers hat, besteht darin, dass dieses nicht die Komplexität der tatsächlichen Dynamik der Bewegungen zu denken vermag, sondern eine technische Projektion ist: Eine Reduktion auf das Modell eines mechanischen Apparates: „Was ist denn schließlich unsere Astronomie? Unsere Astronomie war lange Zeit nichts anderes als die Darstellung der Weltmaschinerie. Es war eine große Maschine, wie man sich die Sonne im Verhältnisse zu den Planeten und die Bewegungen da vorstellte. Dazu ist in der neueren Zeit der Chemismus gekommen in der Spektralanalyse. Aber weiter geht eben die Astronomie nicht. Die Astronomie, diese Wissenschaft des Weltalls, beantwortet sozusagen heute lediglich die Frage: Wie kommen wir mit der Vorstellung des Weltalls zurecht, wenn wir die aus der Technik uns bekannten Vorstellungen einfach auf das Weltenall anwenden, wenn wir uns dasjenige hinaus versetzt denken in den Weltenraum, was wir in der Technik beobachten können." (17) In der Überwindung der rein mechanischen Vorstellungen hin zu einem Denken organischer Prozesse sieht Rudolf Steiner die angemessene Esoterik der Gegenwart. Die Technik gibt die geeigneten Instrumente zur Beobachtung und Erfassung, darf aber nicht als reduktionistisches Modell über die beobachteten Phänomene gestülpt werden. Die Komplexität organischer Prozesse bedarf eines ihnen angemessenen Denkens, das sich nicht in simplifizierender Mechanik verfängt.


—————

1 The Mercurial Emperor: The Magic Circle of Rudolf II in Renaissance Prague by Peter Marshall, Kindle- Ausgabe ohne Seitenangaben
2 Rudolf Steiner, GA 238.103
3 Mutter Parzivals
4 „Julianus hatte im 4. Jahrhundert die Aufgabe, gewissermaßen einen letzten Anstoß dazu zu geben, die spirituellen Weisheitsschätze früherer Epochen der Menschheitsentwickelung ein letztes Mal zum gewaltigen Aufflammen zu bringen und sie zu bewahren vor dem Schicksal, das sie leicht hätten finden können, wenn es nur dem aufstrebenden Christentum überlassen geblieben wäre, mit diesem Weisheitsschatz zu wirtschaften.“ Rudolf Steiner, GA 126.88
5 Rudolf Steiner, GA 238.93
6 Rudolf Steiner, GA 238.91
7 https://de.wikipedia.org/wiki/Julian_(Kaiser)
8 Steiner deutet griechische Einweihung an: „Tycho Brahe kommt einem vor, wenn man seine Seele studiert, wie jemand, der sich aus einem früheren Leben heraus an Anschauungen erinnert, die er gehabt hat, etwa wie man in Griechenland prophetisch Dinge getrieben hat. Es ist etwas in ihm wie in der Seele eines alten Griechen, der überall Weltenharmonie sehen will.“ GA 61.89f
Aber auch ägyptische: „In ihm sehen wir die alte ägyptische Weisheit wiederum aufleuchten.“ GA 143.160 Es finden sich Hinweise zu Nostradamus: „Dann taucht in der Seele auf, taucht in Nostradamus’ Geist – man sieht es ganz genau geistig – in Bildern dasjenige auf, was er verkündet. Er sieht es wie in Bildern, in Szenen vor sich.– Wer sich in das eigentümliche Seelenleben des Tycho Brahe hineinlebt, der findet, daß es nicht gar so weit entfernt war von dem Seelenleben des Nostradamus.“ GA 61.88 Aber auch - als Inspiration - zu Schelling: „Wenn man sich in die Sprache, die Schelling führt, in die so merkwürdige Sprache vertieft, dann hört man bald nicht Schelling reden, sondern Tycho Brahe. Er inspirierte ebenfalls Jakob Froschammer, er schrieb: Die Phantasie als Grundprinzip des Weltprozesses.“ GA 238.102
9 „On opening the pages, Brahe was not only intrigued to find a brilliant mind at work but delighted when he read in the accompanying letter that he, Brahe, was ‘the prince of mathematicians not only of our time but of all times’. Praise indeed but then Kepler was the first to admit that he had ‘a childish or fateful desire to please princes’ and that had ‘in every way a dog-like nature. His appearance is that of a little house dog.’“ in: Peter Marshall
10 GA 326.106f
11 GA 178.49
12 GA 130.315
13 GA 323.160f
14 GA 323.155f
15 GA 323. 310ff
16 GA 323.313
17 GA 212.91f