Geisteswissenschaft, geistige Flauschigkeit und Urlaub vom Ego

Für die, die sich immer noch darum sorgen oder zumindest seit Jahrzehnten darüber debattieren, ob Rudolf Steiner mit dem Begriff Geisteswissenschaft - analog zum Begriff Anthroposophie verwendet- einen Platz in der Riege der akademischen Wissenschaften beansprucht habe- ein Anspruch, der verständlicherweise dort stets zurück gewiesen wird, ein Einspruch von Rudolf Steiner selbst. Im unten* angeführten Zitat geht es Steiner um die ihm relevant erscheinende Kontextualisierung von Geisteswissenschaft, und hier verwendet er analog dazu -im Sinne von Steiners merkwürdiger Tautologie „reale Wirklichkeit“- Vorstellungen einer Offenbarung aus der Welt der Engel- Hierarchien und Verstorbenen: „Diese Welt spricht zu uns durch Geisteswissenschaft“.

Rudolf Steiner betont den Gegensatz zu einer „bloße(n) Lehre“ - also des Nachbetens eines einmal geschöpften Wissens durch die Vermittlung eines geeigneten Mediums- durch Verankerung aktiv betriebener Anthroposophie in religiösen Kontext- nämlich als „lebendiges Wort“ und als „Seelenmusik“. Dass sich ein konventioneller akademischer Betrieb an diesem Punkt überfordert fühlen dürfte, erscheint verständlich. Dasselbe gilt für die traditionelle, rituell oft sinnleer gewordene religiöse Überlieferung, die sich durch Rudolf Steiners Verständnis in der unangenehmen Lage wiederfindet, über eine neue Justierung des Verhältnisses zwischen Denken und Glauben reflektieren zu müssen.

Aber auch dem anthroposophisch Interessierten legt Steiner ein Verständnis auf, das eigene Aktivität erfordert: Es geht um eine quasi wissenschaftliche Positionierung im geistigen Leben selbst, in der aktuellen meditativen Erfahrung: sich der inneren Verortung gewiss zu sein, die zuverlässig selbst dort trägt, wo das Ich keine Antwort, keinen Widerhall, kein Spiegel mehr findet. Das Medium aller Erkenntnis ist der Mensch selbst - die zunächst eng gesteckten Grenzen der dualistischen Erkenntnis gilt es willentlich, bewusst, integrativ und konstruktiv zu überschreiten, wenn man derlei schätzt und sucht. Geisteswissenschaft ist notwendigerweise praktizierte Erkenntnistheorie.

Anthroposophie aufgefasst als „lebendiges Wort“ ist keine bereits erfüllte Zuschreibung, sondern eine Herausforderung, denn es handelt sich offensichtlich um eine Chiffre Rudolf Steiners für einen inneren Erfahrungskontext, den jeder Leser, Anhänger, Schüler nur selbst ausloten kann. Erst im Vollzug kann dieses Verständnis von „Geisteswissenschaft“ dann erreicht werden, wenn die Wegmarken, die Steiner hinterlassen hat, sich tatsächlich in eigenen aktiven Vollziehen als tragfähig erweisen.

Neben der Nachvollziehbarkeit der Erkenntnis- Schritte bleibt die Notwendigkeit einer ständigen methodischen Kritik- „passt“ der Arbeitsansatz Steiners auch noch 100 Jahre später? Oder stehen wir nach einem turbulenten, katastrophalem Jahrhundert voller Abgründe, aber auch einer anderen wissenschaftlichen, technologischen und sozialen Informiertheit, ja einer durch Technologie und Wirtschaft angestossenen Globalisierung methodisch vor neuen Herausforderungen, an ganz anderer Stelle? Jeder Mensch hat heute Zugang zu Mysterien aller Art, und das nicht nur theoretisch. Buchen Sie heute einen Flug auf einen Schweizer Bergbauernhof, wo Ihnen morgen praktisch tausend Jahre alte Einweihungsmethoden vermittelt werden. Versprochen wird die Überwindung des Dualismus, aber geliefert wird vermutlich nur ein Urlaub vom Ego und eine gewisse seelische Flauschigkeit.

In Rudolf Steiners Anspruch soll die „Wirklichkeit“ nicht beiseite geschoben, sondern intellektuell so weit durchdrungen werden, dass die Selbstbezüglichkeit des eigenen Denk- Horizonts überwunden wird. So weit und bis dahin bleibt „Geisteswissenschaft“ aber zwangsläufig nichts als „bloße Theorie“- ein Glasperlenspiel mit schönen Begriffen, Aussichten und Gefühlen. Was lediglich tradiert und als Lehre aufgefasst wird, verfehlt eben den Anspruch der so aufgefassten „Geisteswissenschaft“, wird dann in der Folge aber auch schnell zu dem "Opium", vor dem schon Karl Marx warnte, denn dann werden nur seelische Bedürfnisse abgedeckt: I want to believe.
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* „Das kann nur geschehen, wenn in Geisteswissenschaft eine reale Wirklichkeit gesehen wird, und nicht eine bloße Lehre. Es wird leicht in Geisteswissenschaft eine bloße Lehre gesehen, eine Theorie. Aber Geisteswissenschaft ist nicht eine bloße Lehre, ist nicht eine bloße Theorie, Geisteswissenschaft ist ein lebendiges Wort. 

Denn was als Geisteswissenschaft verkündet wird, ist die Offenbarung aus den Welten, die wir gemeinschaftlich haben mit den höheren Hierarchien und mit der Welt der sogenannten Toten. Diese Welt selbst spricht zu uns durch Geisteswissenschaft. Und der, welcher wirklich Geisteswissenschaft versteht, der weiß, daß in der Geisteswissenschaft forttönt das, was Seelenmusik der geistigen Welt ist.“

Rudolf Steiner, GA 179, S. 100